Suche

Eys Wide Shut und die Traumnovelle

1 Die Maskierung als eine Konsequenz der Scham

Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; – und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens.[1]

Um sich den verschiedenen Darstellungen der Maskierung, des Verborgenen und Verhüllten in Arthur Schnitzlers Traumnovelle annähern und deren Wirkung und Auflösung erörtern zu können, muss sich zuvor eine grundlegende Frage gestellt werden: Warum wird das Motiv der Maskierung hier so explizit verwendet? Eine mögliche Erklärung gibt Julia Freytag in ihrer Analyse und behauptet: „Scham wird durch eine plötzliche visuelle Bloßstellung ausgelöst und zielt auf den Wunsch, sich vor den Blicken der anderen zu verbergen.“[2] Sie konkretisiert ihre Aussage und bezieht sich auf die Traumnovelle, indem sie die These aufstellt, dass Schnitzlers berühmtes Werk „eine Geschichte von Beschämung und Scham“[3] sei. Der Grund, warum die Scham bei dem Ehepaar Fridolin und Albertine ausgelöst wird, ist die Tatsache, dass sie sich gegenseitig ihre tiefsten Geheimnisse offenbaren und auch ihre erotischen Träume nicht außenvorlassen.[4]

Ausgehend von dieser Aussage und vor dem Hintergrund, dass Scham als Ursprung des Motivs der Verhüllung angesehen wird, soll in dieser Arbeit auf die verschiedenen Formen ebendieser Verhüllung und deren Enthüllung als Dialektik im Text eingegangen werden. Um den Blick auf dieses Motiv möglichst differenziert zu gestalten, werden vier Aspekte herausgegriffen, die auch eine intermediale Betrachtung nicht ausschließen. Demzufolge wird neben einer eingängigen Untersuchung der Dialogmuster und welche Auswirkungen diese auf die Verhüllung und Enthüllung haben, auch auf die Figurenkonstellation und das stilistische Mittel der Allegorie im Kontext der Maske eingegangen, die sich wie ein roter Faden durch die Traumnovelle zieht. Um das Blickfeld auf medialer Ebene zu erweitern, soll im letzten Punkt Stanley Kubricks Eyes Wide Shut dazu verwendet werden, anhand einer Filmadaption die Verwendung dieser zwei sich antithetisch gegenüberstehenden Pole zu untersuchen.

Mit dieser differenzierten Analyse der Traumnovelle und über diese hinaus, wird die Frage gestellt, wie eine Maskerade, inklusive dem offensichtlichen Tragen einer Maske, und wie im Gegensatz dazu eine tatsächliche und metaphorische Demaskierung aussehen kann. Die zentrale These ist, dass sich die Verhüllung und Enthüllung in Arthur Schnitzlers Werk nicht nur in der äußerlich sichtbaren Form durch das Tragen einer Maske zeigt, sondern sich dem Leser und Zuschauer auch durch Betrachtung anderer, zuvor genannter, Aspekte ein Spektrum dieser Dialektik eröffnet. Es wird interessant sein herauszufinden, wie und ob sich Enthüllung und Verhüllung in der Traumnovelle etwa in einer Wechselbeziehung befinden.

2 Die Analyse der Dialektik

Die Brisanz der Verhüllung in Schnitzlers Traumnovelle ist nicht abzustreiten, denn „nach Freud ist die ‚Maske‘ ein Traumsymbol für den Tod.“[5] Doch die folgende Analyse konzentriert sich nicht auf die Traumdeutung per se, denn auch vor und nach Fridolins traumähnlicher Reise gibt der Text Aufschluss über verborgene Wünsche und Nöte der Akteure, die in der Konsequenz aufgedeckt werden müssen. Um diese Arbeit nicht zu umfangreich werden zu lassen, wird hier auf andere dialektische und polarisierende Motive weitgehend verzichtet, wenn sie nicht unter das Phänomen des Gegensatzes der Verhüllung und Enthüllung fallen.

2.1 Verborgenes Verlangen und Träume zwischen den Akteuren

Hier wird sich nicht auf das Verhältnis zwischen Albertine und Fridolin beschränkt, denn es werden auch einzelne Ereignisse mit anderen Akteuren aus der Traumnovelle herausgegriffen, welche die Dialektik und das vielfältige Auftreten der Enthüllung und Verhüllung möglichst anschaulich widerspiegeln.

Albertine und Fridolin erzählen sich gegenseitig die intimen Geheimnisse ihrer erotischen Sehnsüchte und Wünsche – anhand von Erinnerungen an ihren gemeinsamen Dänemark-Urlaub und an den Sommer vor ihrer Hochzeit. Sie und [sic] öffnen und ‚enthüllen‘ sich voreinander, wodurch Scham und Beschämung ausgelöst werden.[6]

„Er ließ ihre Hände aus den seinen gleiten, als hätte er sie auf einer Unwahrheit, auf einem Verrat ertappt; sie aber sagte: »Ach, wenn ihr wüsstet«, und wieder schwieg sie.“[7] Die Aussage Albertines ist symptomatisch für den Ablauf der Gespräche zwischen ihr und Fridolin, denn die Prämisse ist, dass der andere jeweils nichts von den tiefsten Wünschen weiß. Ihr erstes tiefgründiges Gespräch im Text ist am Tag nach dem „schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück“[8] angesiedelt und es ist „ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen“[9]. Nach diesen Gesprächen quält Fridolin eine Eifersucht auf die noch vor ihm liegende und die bereits verlebte Zeit, was die Zerstörung der Gegenwart zur Folge hat. „Das eigene Ich der Vergangenheit oder Zukunft wird ebenso von dem gegenwärtigen getrennt und deshalb in Beziehungen mit Frauen bedrohlich erfahren wie ein anderer Mann, der von außen kommen könnte.“[10] Dieses Symptom zeigt sich darin, dass er die wahren Wünsche von Albertine nicht erkennen kann oder erkennen will und das Handeln seiner Frau rein als sexuell orientierten Akt versteht.[11] Dieses Szenario findet in Kapitel I statt, als Albertine Fridolin mangelnden Mut vorwirft, denn statt mit ihr ins Ungewisse zu ziehen, „küsste er nur zart [meine] ihre Hand, – und am Morgen darauf fragte er [mich] sie – ob [ich] sie seine Frau werden wollte.“[12] Obwohl Albertine ihrem Ehemann schildert, was sie tief im Herzen bewegt und sich ihm öffnet, interpretiert dieser die Enthüllung falsch und legt die Vermutung nahe, dass es ihm weder gelingt „zum Innern seiner Frau noch zu seinem eigenen wirklich Zugang zu finden.“[13]

Albertines erstes Geständnis zeigt noch besser, dass ihr Verlangen nach dem jungen Mann völlig vor Fridolin verhüllt bleibt, bis sie ihm davon berichtet. Nachdem sie ihn schon beim Abendessen gesehen hatte und den Wunsch auslebt, „selbst zu begehren und sich faszinieren zu lassen“[14], lässt sie sich von ihrer Faszination und der von ihr empfundenen sexuellen Anziehung nichts anmerken. Das wird besonders deutlich als sie Fridolin folgendes schildert: „und ich war beglückt, ihn zu sehen. Dir aber strich ich über die Stirne und küßte dich aufs Haar, und in meiner Liebe zu dir war zugleich viel schmerzliches Leid.“[15] Diese Fantasie wäre in ihrer Ganzheit und wegen Albertines Schauspiel vor Fridolin verborgen geblieben und auch hier entgegnet er ihr, nachdem die Geschichte zu Ende erzählt ist, mit einer sehr negativen und dekonstruktiven Haltung.

Dieser Erläuterung folgt unmittelbar das Eingeständnis von Fridolin, im gemeinsamen Urlaub in Dänemark einem jungen Mädchen nähergekommen zu sein. Seine Erfahrung weist Parallelen zu Albertines voyeuristischer Erfahrung auf mit dem Unterschied, dass sein Gegenüber schließlich auch auf ihn aufmerksam wird. Das Motiv der Verhüllung zeigt sich hier zum einen dadurch, dass Fridolin „das Antlitz im Dunkel“[16] verbirgt und so seine nachfolgende Beichte womöglich besser und für ihn einfacher vermitteln kann. Zum anderen offenbart ihr Fridolin, dass er schon im Dänemark-Urlaub im Verborgenen gehandelt hat, indem er berichtet, dass er manchmal, bevor Albertine aufgestanden war, Spaziergänge unternahm. Sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit versucht er sich zu verbergen, wenn es darauf ankommt, Albertine die Wahrheit zu vermitteln. Diese für ihn schmerzlichen Mitteilungen sind der Grund, warum er beschämt reagiert und in einen traumähnlichen Zustand verfällt, der ihn in die düstersten Ecken Wiens kommen lässt.

Ein weiteres bedeutendes Ereignis in Schnitzlers Werk ist Albertines Schilderung ihres Traumes, der von erotischen Abenteuern mit Traumgestalten handelt, die aber deutliche Bezüge und Verbindungen zu Personen aus der Realität aufweisen.

Je weiter sie in ihrer Erzählung fortgeschritten war, um so lächerlicher und nichtiger erschien ihm seine eigenen Erlebnisse, so weit sie bisher gediehen waren, und der schwor sich zu, sie alle zu Ende zu erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau, die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hat.[17]

Als Albertine Fridolin von ihrem Traum erzählt, enthüllt sie ihm ihren „Traum als Erfüllung geheimer Triebwünsche“[18]. Dieser Traum wird nicht als solcher dargestellt, denn Albertine schildert ihn aus ihrer Perspektive. Die Wechselwirkung von innerer und äußerer Realität[19], die sie mit ihrem zu Beginn geistesabwesenden Zustand suggeriert, weist auch auf einen verschwimmenden Übergang von der Enthüllung zur Verhüllung, vom Wachzustand zum Traum hin, denn „wir befinden uns an der Schwelle zwischen Schlaf und Traum, doch auch der Fiktion als Wachtraum.“[20] Es ist nicht klar, ob Albertine alles preisgibt und ob es sich dabei um die Wahrheit handelt – Verhüllung und Enthüllung liegen hier nah beieinander.

In diesem Kontext und unter dem Gesichtspunkt der Demaskierung des Erlebten beziehungsweise der nächtlichen Odyssee von Fridolin soll die Aufarbeitung der Begegnungen am darauffolgenden Tag durch denselben nicht unerwähnt bleiben. Es handelt sich hier „um ein rational geplantes Vorhaben“[21] und fast alle Begegnungen entflechten sich ohne seine aktive Beihilfe.[22] Fridolin versucht hier seine traumartigen Erlebnisse aufzuarbeiten und zu demaskieren, indem er seine nächtliche Reise bewusst und am Tag wiederholt. Doch hier scheitert Fridolin mit seinem Vorhaben in allen Belangen. Die Enthüllung und der geplante und erhoffte Racheakt, den Albertines Traum-Geständnis hervorruft, finden nicht statt und enden in einem Schamgefühl, das er mit einer selbst konstruierten Genugtuung zu kompensieren versucht.[23]

Eine weitere Szene, die verborgene Wünsche als Wechselwirkung von Verhüllung und Enthüllung gut herausstellt, ist die Begegnung zwischen Fridolin und Marianne, der Tochter des soeben gestorbenen Hofrats, der im Totenbett neben den beiden im Zimmer liegt. Denn es stellt sich im Laufe des Gesprächs heraus, dass Marianne für Fridolin eine Zuneigung entwickelt hat, dieser aber schon länger davon weiß: „Er war mehr ergriffen als erstaunt; denn er hatte es immer gewußt, daß sie in ihn verliebt war oder sich einbildete, es zu sein.“[24] Die vermeintlich verhüllte Tatsache der Liebe Mariannes zu Fridolin ist eigentlich längst enthüllt, doch mit dem Ausspruch ihrerseits „Auch wenn Sie niemals wiederkommen, wenn ich Sie niemals mehr sehen soll; ich will in Ihrer Nähe leben“[25] macht sie es offiziell und die Enthüllung beziehungsweise das Geständnis der Liebe findet mit Worten von Angesicht zu Angesicht statt. Trotz der eigentlich schon vorhandenen, nichtmündlichen Enthüllung, von der Marianne aber nicht weiß, dass sie bereits stattgefunden hat, hat die tatsächliche Enthüllung noch einmal eine andere Auswirkung auf die verborgene Sehnsucht von Marianne: sie weiß nun auch, dass Fridolin von ihren Wünschen weiß.

2.2 Das dialogische Zwiegespräch

Die Traumnovelle fällt nicht aus der Reihe Schnitzlerscher Abhandlungen über Beziehungen, denn auch hier befindet sich das zentrale Ehepaar „in einer unbefriedigten Beziehung“[26]. Dieses Scheitern auf Beziehungsebene zeigt sich dadurch, dass „die Ehekrise [wird] durch Fridolins Abenteuer und Albertines Traum an den Tag gebracht wird, doch erlauben auch ihre Gespräche vor und nach diesen Episoden in gleichem Maße, ihre Situation zu analysieren.“[27] Um eine thematische Überschneidung mit 2.1 zu vermeiden, soll jetzt unter intensiver Betrachtung des Textes von Arthur Schnitzler das dialogische Zwiegespräch von Albertine und Fridolin dazu verwendet werden, dieses als Wegbereiter und Vorbereiter der gegenseitigen Enthüllung herauszustellen.

„Sie hob zuerst, wie in leiser Abwehr die Hand; er faßte sie behielt sie in der seinen, sah wie fragend und zugleich bittend zu ihr auf, sie nickte ihm zu und er begann.“[28] Das letzte Geständnis Fridolins über seine nächtliche Reise liegt elliptisch und konkret nur in Form der abschließenden Worte des Gesprächs vor. Doch wichtig ist die Essenz, die aus der Unterredung von Albertine und Fridolin gezogen wird. Denn keiner der beiden weiß, ob trotz des Gesprächs alle Gedanken und Wünsche des anderen enthüllt werden. So sagt Albertine: „So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.“[29] Sie glaubt gleichsam, dass die volle Wahrheit nie enthüllt werden kann und in diesem Kontext das ganze Leben eines Menschen mit dem Zeitraum einer einzigen Nacht gleichzusetzen ist. Auch glaubt sie nicht, obwohl Fridolin darauf hofft, dass sie für immer im klaren Wachzustand verharren, denn nur „für lange“[30] scheint es nach ihren Ansichten der Fall zu sein. Eine Gewährleistung für eine fortwährende Offenlegung aller Geheimnisse und Ausbleiben verborgener Sehnsüchte ist ausgeschlossen. Dieses letzte Gespräch bereitet beide abschließend und mit offener Ausrichtung auf weitere Träume und Wünsche vor, die von neuem enthüllt werden müssen – diese Aussage ist für Schnitzler offenbar das Elixier einer funktionierenden Ehe.

Das Zwiegespräch, das nach der Rückkehr Fridolins am Morgen nach dem geheimen Maskenball stattfindet und mit Albertines Schilderung ihres Traumes endet, hat zwar zwei lange Monologe im Kern, doch bei genauer Betrachtung der Verhaltensmuster der beiden Akteure kann erneut dargelegt werden, dass selbst der Akt des Enthüllens – in diesem Fall erneut der beichtende Monolog Albertines – mit dem Verhüllen einhergeht. Denn bevor Fridolin ihr entgegnet, sie solle doch weitererzählen[31], „merkte er, wie Albertine das Gesicht in den Händen gleichsam verborgen hielt.“[32] Der Enthüllung durch Albertine folgt also wieder unmittelbar die Verhüllung durch eine dementsprechende Geste. Der vorangehende Dialog, der auf Seite 59 beginnt, kann hier erneut als Reiz für die Enthüllungsreaktion verstanden werden.

»Was ist dir?« fragte er wieder.

Sie schüttelte nur langsam den Kopf. Er strich ihr über die Haare. »Albertine, was ist dir?«

»Ich habe geträumt«, sagte sie fern.

»Was hast du denn geträumt?« fragte er mild.

»Ach, so viel. Ich kann mich nicht recht besinnen.«

»Vielleicht doch.«[33]

Um Albertine die geheimen Wünsche aus ihrer im Traum erlebten Triebwelt entlocken zu können, muss sie Fridolin im Dialog zuerst aus dem Dämmerzustand holen, der ihr kurz nach dem Schlaf noch innewohnt. Der Besinnungshergang wird im Gespräch mit ihm beschleunigt und kann in der Folge zur Enthüllung führen, denn wie sie selbst beschreibt, ist ihr Traum „so wirr“[34].

2.3 Das Motiv der Maske

Hinter dem Maskensymbol verbirgt sich damit auch ein Persönlichkeitsverlust, der Gewinn einer Anonymität auf Kosten der Individualität – statt Gesicht die Larve, statt individueller Kleidung die typisierten Kostüme wie Domino, Nonnentracht, Mönchsgewand, Kavalierstracht.[35]

Das Motiv der Maske erstreckt sich durch die gesamte Traumnovelle und wird von zahlreichen Akteuren, vor allem von Fridolin, als Gegenstand dazu verwendet, sich ihrer Umwelt unkenntlich zu machen. Schon einleitend im ersten Kapitel befinden sich Albertine und Fridolin auf einem Maskenball, bei dem sie jedoch schließlich „froh [sind], einem enttäuschend banalen Maskenspiel entronnen zu sein“[36]. Ein erneutes Auftreten findet die Maske im Laden des Maskenverleihers Gibiser, der Fridolin mit dem nötigen Utensilien für den darauffolgenden Maskenball der geheimen Organisation ausstattet. Im Folgenden soll anhand ausgewählter Szenarien herausgestellt werden, wie Arthur Schnitzler Enthüllung und Verhüllung mit dem Motiv der Maske in der Traumnovelle darstellt – auch auf 1 verweisend und die These als Grundlage nehmend, dass die Maske „ein zentrales Darstellungsmittel für Fridolins Scham ist.“[37]

Bei einer Maskerade „finden Darstellen und Verhüllen [in der Maskerade] gleichzeitig statt“[38], doch auch „Geheimnisse und deren Enthüllung“[39] spielen eine große Rolle, wie Fridolin von Nachtigall erfährt, als dieser ihm über den geheimnisvollen Maskenball berichtet. Er weckt Fridolins Neugier mit seiner Aussage, dass er als Pianist „in allen mäglichen Kreisen, auch gräßere, äffentliche und gehäime“[40] verkehrt. Doch als Voraussetzung, diesem Spektakel beiwohnen zu dürfen und sich in die geheimen Kreise begeben zu können, gilt folgende, von Nachtigall formulierte Regel: „So wie du bist – kenntest du auf keinen Fall, nämlich alle sind maskiert, Herren und Damen. Hast du eine Maske bei dir und soo?“[41] Die Maske ist somit die Prämisse, um eine gegenseitige Enthüllung und Verhüllung erleben zu können.

Beim Maskenverleiher Gibiser erhält Fridolin einen ersten Eindruck von den Verkleidungen und Masken, die er später auf dem Maskenball in Aktion erleben soll. Diese Wahrnehmung zeichnet sich dadurch aus, dass es Fridolin erging, „als wenn er durch eine Allee von Gehängten schritte, die im Begriffe wären, sich gegenseitig zum Tanz aufzufordern.“[42] Die freudsche Traumdeutung der Maske als Motiv des Todes muss herangezogen werden und noch vor dem Erwerb des verhüllenden Kostüms durch Fridolin kündigt sich hier eine Gefahr an, die auf dem Maskenball ihren Höhepunkt findet. Die plötzliche Enthüllung in Gibisers in Dunkelheit gehülltem Laden findet statt, als sich plötzlich „eine blendende Helle“[43] ausbreitet, nachdem lautes Geräusch zu hören war. Der Maskenladen und dessen Besitzer eröffnen sich Fridolin fortan als nächste in ihm schlummernde erotische Wunschvorstellung: „Mit Gibisers als ‚Pierrette‘ verkleideter Tochter, die sich heimlich im Kostümfundus mit zwei ebenfalls kostümierten Männern trifft, begegnet Fridolin einer Doppelgängerin des Mädchens am Strand.“[44] Während eine Maske durch das angehende Licht fällt, bleibt jedoch ein Teil, in der Gestalt der beiden maskierten Männer, verhüllt. Somit ist auch in dieser Szene, die das Motiv der Maske im Kern als Grundlage hat, eine gegenseitige Abhängigkeit von  Verhüllung und Enthüllung zu erkennen. Ein Teil bleibt muss immer verhüllt bleiben, während ein anderer Teil des Ganzen enthüllt werden kann.

Den Höhepunkt der Maskerade findet im Anschluss an den Erwerb des Kostüms auf dem Maskenball der geheimen Versammlung statt. Freytag bezeichnet die an dem Motiv der Maske orientierte Szenerie als „Unverhüllte Körper, verhüllte Blicke“[45]. Die Dialektik Enthüllung und Verhüllung zeichnet sich hier am deutlichsten ab. In keiner anderen Szene der Traumnovelle findet sich die tatsächliche Erwähnung des Verhüllten und der Maske per se häufiger. Nachdem er sich selbst maskiert hat, sieht er aus einem Wagen „eine verhüllte Frauengestalt steigen“[46] und im Anschluss daran fallen ihm im „fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhangen war[.] Masken, durchaus in geistlicher Tracht“[47] auf. Der Gegensatz von Enthüllung und Verhüllung zeigt sich im Kontrast Hell zu Dunkel und Frau zu Mann.[48] Auf der einen Seite stehen die erotisch unverhüllten Frauen, die trotz der Bloßstellung aber noch eine Maskierung im Gesicht haben: „der gegenüberliegende Raum aber strahlte in blendender Helle, und Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt.“[49] Hier lässt sich erneut die Erkenntnis aufgreifen, dass trotz einer vermeintlichen Enthüllung nicht alles aufgedeckt wird, denn Schnitzler schreibt selbst, „daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb“[50]. Das Motiv der Maske dient hier als eine letzte Vorstufe zur völligen Enthüllung und ist somit das Einzige, womit der Mensch, der sie besitzt, noch Kontrolle über das Nachaußengelangen seines Innersten hat.

Bezugnehmend auf das Kontrastprogramm, dessen Fridolin während dieser Szene Zeuge wird, kann also gesagt werden, dass die Blicke der Männer verhüllt auf die unverhüllten Körper der Frauen treffen. Durch die Maske, die den ganzen Körper im Verborgenen hält, ist es den Männern erlaubt, sich der Voyeur hinzugeben, ohne selbst die Anonymität aufgeben zu müssen. Die Emotion der Scham geht einher mit dem Symbol der Maske und so ist Fridolin von der Szenerie der nackten Frauen, die sich den Blicken der Männer ausliefern, so gebannt, dass er sich „mit einer ‚Maske der Scham‘ schützen muss.“[51]

Eine Enthüllung Fridolins durch Demaskierung unter ausschließlich maskierten Ballbesuchern findet nur nicht statt, weil sich die unbekannte Fremde für ihn opfert und sich den anderen Männern hingibt. Ohne Maske verweilen zu müssen, wäre für Fridolin eine Tragödie: „Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen als plötzlich unter Angekleideten.“[52] Der Gedanke daran, dass ihm die Maske heruntergerissen wird, löst in Fridolin eine Furcht aus, die sich mit dem negativen Gefühl der Scham mischt. Die Strafe, die ihm laut der Fremden droht, wenn er ihr die Maske vom Gesicht nimmt[53], deutet darauf hin, dass diese geheime Gesellschaft ohne dieses Motiv der Verhüllung nicht funktionieren könnte. Die Anonymität und die daraus folgende Schamlosigkeit sind ergo Privilegien, die für Fridolin und die anderen Anwesenden nur durch die Maske gewährleistet werden können. Auch sprachlich wird dem Motiv der Maske eine höhere Bedeutung zugetragen, indem der Gegenstand personifiziert wird: „Die andern männlichen Masken strömten herein, die Türen nach beiden Seiten schlossen sich.“[54]

2.4 Eyes Wide Shut

„Es ist aber auch eine Szene des Kinos, die Schnitzler beschreibt: Der Zuschauer im dunklen Kinosaal, anonym und  in der Dunkelheit geborgen, sieht den Film auf der durch den Projektionsstrahl erhellten Leinwand und taucht so in eine imaginäre Welt ein.“[55]

Betrachtet man vorneweg den Titel von Stanley Kubricks filmischer Adaption von Arthur Schnitzlers Traumnovelle, so fällt ein sprachliches Paradoxon auf. Eyes Wide Shut oder die Augen weit geschlossen kann als traumähnlicher Wachzustand gedeutet werden, der eine Gradwanderung zwischen Schlaf und Wirklichkeit darstellt. Da dieser Ausdruck mit dem Gedanken spielt, dass die Augen geöffnet und geschlossen werden können und es im Rahmen der Geschichte von Arthur Schnitzler auch zu beiden Handlungen gleichzeitig kommen kann, lässt sich im Titel des Films die Dialektik ausmachen, die schon in literarischer Form vorliegt: Die Verhüllung und Enthüllung durch Schließen und Öffnen der Augen. Wie diese Polarität in Kubricks letztem Werk aus dem Jahr 1999 zum Vorschein kommt, soll im Folgenden herausgestellt werden. Für die Analyse von Eyes Wide Shut wird die von Henrike Hahn entworfene Sequenzplanung[56] verwendet, um verwendete Passagen besser einordnen zu können.

Betrachtet man rudimentär den Titel von Stanley Kubricks filmischer Adaption von Arthur Schnitzlers Traumnovelle, so fällt ein sprachliches Paradoxon auf. Eyes Wide Shut oder die Augen weit geschlossen kann als traumähnlicher Wachzustand gedeutet werden, der eine Gradwanderung zwischen Schlaf und Wirklichkeit darstellt. Da dieser Ausdruck mit dem Gedanken spielt, dass die Augen geöffnet und geschlossen werden können und es im Rahmen der Geschichte von Arthur Schnitzler auch zu beiden Handlungen gleichzeitig kommen kann, lässt sich im Titel des Films die Dialektik ausmachen, die schon in literarischer Form vorliegt: Die Verhüllung und Enthüllung durch Schließen und Öffnen der Augen. Wie diese Polarität in Kubricks letztem Werk aus dem Jahr 1999 zum Vorschein kommt, soll im Folgenden knapp dargestellt werden. Für die Analyse von Eyes Wide Shut wird die von Henrike Hahn entworfene Sequenzplanung[1] verwendet, um verwendete Passagen besser einordnen zu können – eine eigene Sequenzplanung ergibt sich hier nicht, da die Filmanalyse nur einen kleine Teil der Arbeit darstellt und der Aufwand nicht adäquat wäre. Für den Time-Code, der ebenfalls bei Hahn, aber etwas abweichend, zur Verwendung kommt, wurde die deutsche Fassung der DVD des Verleihs Warner Home Video verwendet.

Dass die Enthüllung auch eines der Leitmotive in Kubricks Eyes Wide Shut darstellt eröffnet er dem Publikum bereits mit dem ersten bewegten Bild im Film (TC 0.00.35), das Nicole Kidman als Alice von hinten zeigt. Diese Szene ist in den Vorspann eingebunden und zeigt die erste Enthüllung des Films. Bei (TC 0.00.40) entblößt sich Alice und lässt ihr Kleid zu Boden fallen. Neben plakativen Enthüllungsdarstellungen wie dieser sind auch subtilere zu sehen, denn „mit Hilfe filmischer und kinematographischer Mittel […] gelingt es Kubrick, figurative Innenwahrnehmung ohne Sprache zu vermitteln.“[2] Die Innenwahrnehmung findet im Inneren der Figuren statt und ist dem Zuschauer eigentlich verhüllt. Stanley Kubrick versucht sich mit Eyes Wide Shut an der Enthüllung der im Innern stattfindenden Gefühle anders als Arthur Schnitzler mit seiner Traumnovelle, denn der Regisseur hat audiovisuelle Möglichkeiten, die er gekonnt zur Verdeutlichung des Innenlebens seiner Figuren einsetzt.

Um dieses nach außen verhüllte Innenleben der Charaktere zu verdeutlichen, soll im Folgenden Tom Cruises Schauspiel zur Veranschaulichung dienen, denn „auffällig an Tom Cruise ist hier sein reduzierter Schauspielstil. Er ist erstarrt schockiert. Seine Mimik wirkt größtenteils maskenhaft.“[3] Die Verhüllung seiner Gefühle durch einen versteinerten Gesichtsausdruck (TC 00.33.04) beginnt, als Bill von Alice über ihre einseitige, aber erotische Begegnung mit einem Mann, der ihr, obwohl sie zu dieser Zeit mit Bill eine normale Beziehung führte, nicht mehr aus dem Kopf ging. Somit wird deutlich, dass mit der Alices Enthüllung ihrer Geheimnisse eine auch nach außen sichtbare Verhüllung Bills beginnt. Diese Verhülltheit, die durch eben diese reduzierte Darstellung von Cruise besonders zur Geltung kommt, hat, wie in der Traumnovelle, ihren Höhepunkt auf dem Maskenball, wo eine tatsächliche Verhüllung stattfindet. Die Maskenhaftigkeit von Bills Mimik kann erst wieder aufgehoben werden, als er am Morgen zu seiner Frau zurückkehrt. Er sieht die Maske neben Alice im Bett liegen und in der Konsequenz löst sich seine eigene mimische Maskerade auf (TC 02.26.55).[4] Die Dialektik der Enthüllung und Verhüllung ergibt sich hier deutlich in der Dialektik der Maskierung und Demaskierung. Dadurch dass die echte Maske in Verbindung mit seiner Privatsphäre kommt, kann er seine eigene, innere Maskerade auflösen und Alice seine Erlebnisse enthüllen.

Eyes Wide Shut hat, wie die Traumnovelle, seinen dramaturgischen Höhepunkt in den Passagen des Maskenballs, was im Film in Sequenz 12 dargestellt wird. Mit dem Überstreifen der Maske bei (TC 01.12.27) befindet sich Bill in anonymer Gesellschaft mit anderen Maskierten. Hier wird der Zuschauer Zeuge der plakativen Darstellung von Verhüllung und Enthüllung, denn bei (TC 01.14.12) enthüllen sich zehn Frauen im Rahmen einer Zeremonie. Der unverhüllte Blick auf die nackten Körper, auf denen jedoch verhüllte Gesichter zu finden sind, wird mit Filmen der restlichen Party-Besucher fortgeführt, die vollständig verhüllt sind (TC 01.14.46). Mit dieser Nahaufnahme zeigt Kubrick die voyeuristischen Intentionen der Maskierten, die selbst durch die Maske sichtbar sind. Eine wichtige Person in diesem Szenario stellt der von Sydney Pollack dargestellte Victor Ziegler dar – diesen Charakter gibt es in der Traumnovelle nicht und ist gleichsam Kubricks persönlicher Beitrag an der Dialektik der Verhüllung und Enthüllung. Ziegler „ist Mitglied der maskierten geheimen Gesellschafter. Zeigler weiß trotzdem, wer sich hinter den Masken verbirgt. So scheint es, als würde er Bill erkennen und von der Balustrade herab begrüßen.“[5] Er tritt bei (TC 01.15.46) in maskierter Form in Erscheinung und demaskiert Bill, indem er sich in Richtung der Kamera dreht. Ziegler tritt auch später bei (TC 02.10.49) in demaskierter Form in Erscheinung, als er Bill privat empfängt. Er vermittelt Bill, ein Mann mit zwei Gesichtern zu sein, denn „zum einen ist Ziegler der charismatische Ehemann, der smarte Gastgeber und dankbare Patient von Bill, zum anderen ist er ein knallharter Machtmensch, der seine Frau betrügt und das Geschehen kontrolliert.“[6] Die Maskenhaftigkeit der geheimen Organisation wird also in der Person Zieglers nach außen in die Wirklichkeit übertragen. Somit hat auch in Stanley Kubricks Eyes Wide Shut die Verhüllung und Enthüllung verschiedene Gesichter und weißt eine Wechselwirkung auf, die sich durch den gesamten Film erstreckt.


Auf die Integration der Sekundärliteratur wurde aus ästhetischen Gründen verzichtet. Diese kann aber gerne auf Nachfrage übermittelt werden.

Titelbild © 2007 Warner Home Video